Der Russe an sich

Habt Ihr schon mal Sex gehabt? Also mit einem anderen Menschen?

Okay, nachdem ich mir gerade die Krone der Clickbait-Könige aufgesetzt habe mit dieser Frage und meine Monty-Python-Referenz („Say no more“) hoffentlich auch gewürdigt wurde: Sex ist eine lustige Sache, die man meistens irgendwann im Teenager-Alter hat. Eine Meinung zu Sex hat man gemeinhin schon früher. Wer als Erwachsener mal das Pech hatte, Teenies zuzuhören bei sowas, stellt entweder fest, dass die überhaupt keinen Plan haben oder nur das Konzept verstanden haben, aber völlig absurde Dinge für wichtig halten.

Mit dem Russen an sich ist es genau so. Und mit dessen uns bekanntestem Produkt, der Kalaschnikow1, ganz besonders.

Das ging mir gestern auf, als ich eine Austausch las, wo ein Schreiberling erklärte, dass die AK-74 schlechter sei als die AK-47, weil letztere ein .22-Geschoss verwendet. Und jemand anderes argumentierte dagegen, aber jetzt nicht mit ballistischer Kompetenz und dem Hinweis, dass eine der effizientesten Militärpatronen die .223 Rem ist2, sondern faselte was von riesigen Unterschieden zur „Poodle-Shooter“-Patrone .223 Rem und von der „Poison Pill“ 5.45×39.

Nun, Dumme gibt es überall, aber ich merke schon, dass etwas, sobald es aus dem Osten kommt, immer wieder gerne Geheimnisse unterstellt bekommt. Da haben Jahrzehnte Kalter Krieg, Eiserner Vorhang und Propaganda ihre Wirkung entfaltet. Dankbarerweise habe ich eine zeitlang in Weißrussland gearbeitet und war ein paar Jahre mit einer Weißrussin verheiratet – im öffentlich-rechtlichen Fernsehen würde mich das zum Russland-Experten machen und auch wenn ich nicht über Zwangsgebühren finanziert werde, gebe ich jetzt mal den Experten:

5.45 x39  – „Poison Bullet“ Bullshit

Der Russlandkenner weiß: Auch im Osten gibt es Physik. 5.45×39 ist eine militärische Patrone mit Hohlspitze. Und das aus genau den gleichen ballistischen Gründen wie im Westen: Fliegt besser so. Und weil sie militärrechtlich nicht aufpilzen darf, hat sie einen harten Mantel und überschlägt sie sich statt dessen in Weichgewebe, was der durch die Hohlspitze verlagerte Schwerpunkt unterstützt. Fertig.

Eventuell ist tatsächlich mal jemand auf die Idee gekommen, in diese Hohlspitze dann Zyanid zu füllen. So Typen gibt es im Militär immer. Der Russlandkenner weiß: Der Osten ist da wie der Westen, solche Typen gibt es überall. Ob irgendein Gift die Reibungswärme des Durch-den-Lauf-Getrieben-werdens übersteht, ist höchst fraglich: Würde es funktionieren, würde das der Rest der Menschheit schon lange machen.

Eventuell haben Afghanen3  die Wirkung dieser Patrone so wahrgenommen, weil Verbluten doch etwas länger dauert, wenn man voll auf Droge ist. Und wenn das Einschussloch dann noch so klitzeklein ist, wie bei der 5.45mm, und durch Taumeln des Geschosses oft kein Austrittsloch entsteht, dann kann sich da eine Legende entwickeln. Kann man alles nicht wissen, der Fakt bleibt aber: Gift gibt’s bei der Kaschi nicht abseits der häßlichen Schmiermittel.

Der Name „poison bullet“ ist allerdings ein wunderbares Propaganda-Mittel. Und zwar aus dem Westen, deswegen hat der Term  auch keine russische (oder afghanische) Entsprechung. Die erste 5.45×39 Patrone, die die Amerikaner zu Gesicht bekamen4, war meiner Meinung nach ziemlich geil im Vergleich zu der 5.56×45 FMJ, die damals verwendet wurde5. Der Neid musste sich irgendeine Rechtfertigung suchen. Hat sich mittlerweile erledigt und war für Zivilisten, die auf echte expandierende Hohlspitz-Geschosse oder wirklich weiche Softpoints setzen konnten, eh nie ein Problem.

Nun mal weiter zum Schießgerät selbst:

Die Legende von Schmeissers Mitarbeit

Wenn man mal anerkennt, dass die Kaschi ein brillantes Produkt ist, dann kommt man als Westler nicht umhin zu versuchen, etwas Ruhm selbst einzubehalten. So ergibt sich die praktische Situation, dass Hugo Schmeisser in Kriegsgefangenschaft in Russland war und dort bei der Waffenentwicklung helfen sollte.

Und da gibt es einiges an Streit: „Klar soll Schmeisser mitgeholfen haben, sieht man doch“, sagen die einen, „der saß 600km entfernt“ sagen die anderen. Der Russlandkenner kann dazu nur 2 Dinge sagen: Wenn es dem obersten Sowjet wichtig gewesen wäre, dann hätte er Hugo auch 600km mit der Bahn fahren lassen. Und er hätte die Mitarbeit natürlich vertuscht, fragt mal Yezhov, Trotsky und Kamenev.

Aber uns‘ Hugo hat selbst nie was davon erzählt. Praktisch ist das eh‘ irrelevant, denn um am Genius teilzuhaben, muss erst mal einer da sein:

Das Genie Michael Kalaschnikow

Michael Kalaschnikow wird gerne als Genie hochgehalten. Die erfundene Geschichte über Uziel Gal, der seine Uzi aus Resten (im besten Fall aus dem Krankenhaus-Bettgestell) zusammenstückelt, findet man in Variationen auch über die Kalaschnikow.

John Moses Browning war ein Genie. Jemand, der völlig neue, Epoche-machende Systeme erfunden hat von der Taschenpistole bis zum schweren MG und dann noch mal komplett andere, ebenso gute, nur um um ein eigenes Patent rumzukommen, das er verkauft hatte, so jemand ist ein Genie.

Mikhail Kalaschnikow war kein Genie in dem Sinne. Er war ein wirklich, wirklich guter Ingenieur. Ein guter Ingenieur versteht, das andere Wafen aus eizelnen Komponenten bestehen, welche Aufgabe sie erfüllen und kann bewerten, ob sie das gut oder schlecht machen. Und er versteht, wie er die guten Teile übernimmt ohne die schlechten auch mitzunehmen.

Die AK47 ist aus technischer Perspektive nicht innovativ. Sie ist eine wirklich tolle Evolutionstufe für ihre Zeit und für ihre Zielsetzung. Das Verschlusssystem gab’s schon, das Gassystem gab’s schon, die Mittelpatrone gab’s schon, die Magazingröße gab’s schon… und die wichtigsten Elemente gab es sogar schon in der russischen Variante: Federov hatte meiner Meinung nach alle wichtigen Sturmgewehrelemente bis auf die Patrone und letztere hatten die Sowjets selbst schon vorher standardisiert.

Ingenieurskunst ist aber nicht nur, klug Dinge zusammen zu führen, sondern auch, eine kluge Produktionsmethode zu finden6. Das hat der gute Mikhail auch hinbekommen: Genau wie das AR-15 mit seinen extrudierten und gefrästen Aluteilen für die 1960er und eine führende Wirtschaftsnation steht, so ist die AK47 ein Beispiel für ihre Zeit und den Arbeit- und Bauernstaat. Mikhail hätte gerne Blechprägetechnik verwendet, wie Deutschland das beim STG44 gemacht hat, seine Prototypen sind so auch gefertigt (wenn auch sparsamer als die deutsche Version, die ja etwas an eine Gewehr-gewordene Junkers Ju-52 erinnert – das deutsche Reich war technisch hochentwickelt, musste aber Material sparen). Für die erste AK-Reihe musste er aber einsehen, dass man technisch dazu nicht großflächig  in der Lage sein würde, weswegen es die aus dem vollen gefrästen Systeme gibt. Erst die AKM hat dann ja Blechpräge-Gehäuse. Und so ist die AK ein Kind ihrer Zeit.

Zusammenfassend gesagt: Auch in der Sowietunion wurde nur mit Wasser gekocht, Mythen sind manchmal bequem, aber am Ende ist gute Ingenieursarbeit das, was uns voran bringt.