Das Wort zum Sonntag: Wargaming

Ich hab ja häufiger mal über Wargaming und so ein Zeug geredet: Also nicht das Verschieben von Miniaturen auf einem Spielfeld, um eine Schlacht zu simulieren, sondern das geistige Durchspielen von möglichst realistischen Selbstverteidigungs-Szenarios, um nicht völlig überrascht zu werden.

Das läßt sich natürlich nach Boyd alles ganz toll mit dem OODA-Loop erklären. Oder mit der zu Grunde liegenden Verhaltenspsychologie: Je weniger Entscheidungen man spontan treffen muss, weil man sie schon durchdacht hat, desto schneller und sicherer kann man reagieren. „Handlungssicherheit gibt Handlungskompetenz“ hat das mal ein sehr kluger Ausbilder für Türstoppersteher zusammengefasst: Wenn ich sicher weiß, was ich tun muss, kann ich das auch sicher tun.

Die Summe all dieser Beschäftigungen mit morbiden Themen härtet natürlich ab. Das nenne ich „emotionale Resilienz“. Jeder hält sich für resilient. Jeder wargamed  ja irgendwas. Der mutige Three-Percenter sieht sich vor dem geistigen Auge die faschistische Knüppeltruppe einen nach dem anderen ausknipsen, nachdem er doch jahrelang jedes Zugeständnis gemacht hat, das er konnte – und irgendwann ist es dann genug. Der Antifa-Lanzer rettet die morgenländische Schönheit vor den tumben, faschistischen Naziskins. Und alle leben glücklich und zufrieden1.

Wargamen kann jeder, Tagträumen nennt sich das. Realistisch wargamen geht anders:

Jeder kann im Kopf Adolf Hitler umbringen – da ist ihm die moralische Entscheidung kulturell schon lange Jahre abgenommen und wer sich informieren will, kennt zahlreiche wirklich nur knapp mißlungene Versuche2. Aber nur wenige haben eine Vorstellung, was es bedeutet, diesen Menschen hier, jetzt gerade, umzubringen, weil er mit ein paar Freunden den Ausgang versperrt; mit der Körpersprache andeutet, eine Waffe zu haben; eine herablassende, entmenschlichende Sprache benutzt und die volle Checkliste an Pre-Combat-Cues abhakt. Jetzt gerade, unter Zeitdruck, mit beschränkten Informationen, ist das eine ziemlich komplizierte Frage3.

Aber darüber möchte ich gar nicht sprechen. Als Internet-Guru bin ich nur verpflichtet, einen coolen, zitierwürdigen Spruch dazu rauszuhauen. Meiner ist: Am Ende ist die Entscheidung, jemanden umzubringen, nur eine logistisch-situative. Übersetzt: Irgendwann ist man durch mit der moralischen Abwägung, mit der rechtlichen Fragestellung, mit der Wahl der Technik und man fragt sich nur, wie man damit in der Situation durchkommt. Klarer Fall von „simple, not easy“.

Was mich viel mehr interessiert: Wann ist es genug? Wenn man am Ende dieser dunklen Treppe angekommen ist 4 ist man dann wirklich nur emotional resilient und nicht ziemlich kaputt?

Zahlreiche Rezepte zur Erreichung emotionaler Resilienz, die in unseren Kreisen besprochen werden, wirken auf mich eher wie Rezepte zur Schaffung einer Depression. Zwei Essays zum Thema „Memento mori“, einer von Mark Luell, einer von Shawn Lupka, machten jüngst in unseren Kreisen die Runde – beide eigentlich sinnvolle „nutze jeden Tag“-Essays, aber beispielsweise Luells Anwendung von negativer Visualisierung nach Art der Stoiker ist imho ungesund – es gibt einen Grund, warum moderne Psychotherapie nichts mit erfolglosen antiken philosophischen Strömungen zu tun hat.

Anyway:  Ich habe viel Zeit darauf verbracht, ein tougher Typ zu werden, aber ich merke: Soziale Interaktion mit normalen Menschen leidet darunter. Das würde mir meine Psychologin, die darauf besteht, dass ich sie meine Freundin nenne,  schriftlich geben. Und wenn ich mir meine Leserschaft anschaue, dann sind da neben vermutlich nur einem superspeziellen-spezial-Leser und ein paar Veteranen hauptsächlich Väter von fünf Kindern; Großväter, deren Enkelinnen endlich mit dem Medizinstudium durch sind; werdende Väter (Glückwunsch!); und ich frage mich: Wohin mit dem Zeugs hier?5 Resilienz ist wichtig, gut leben ist wichtiger. Falls es irgendeinen Mittelweg gibt, mir fällt keiner ein.