Gute Einzelteile gegen ein gutes Gesamtkonzept

Mosin Nagant, Gewehr 98, SMLE… ich hab jüngst in einem Chat die ganzen Weltkriegs-Repetierer mal zusammengefasst als  „1500m-Läufe für 800m-Patronen mit 100m-Visierungen für eine 300m-Doktrin“. Und ich hab versprochen, das mal genauer zu erklären.

Es gibt zwei Arten von Ingenieuren: Die, die unbedingt immer das optimale Teil für einen Anwendungsaspekt bauen wollen und die, die ein ausreichendes Teil bauen wollen, das zum Gesamtkonzept passt.

Der Anfang des letzten Jahrhunderts war die Hochzeit der ersten Art von Ingenieuren und das hat uns die Waffen beschert, die wir heute „Klassiker“ nennen. Die einzelnen Komponenten waren die besten, die man zu der Zeit bekommen konnte – gut zusammen gepasst haben sie nicht.

Als erstes sind da die starken Patronen, die heute fast alle noch unterwegs sind – allerdings kaum mehr in Militärwaffen, sondern in Jagd- und Präzisionswaffen1. Das waren damals die stärksten und leistungsfähigsten Patronen, die man mit dem frühen Nitropulver bauen konnte. Ist ja auch verständlich: Wer endlich die Beschränkungen von Schwarzpulver hinter sich gelassen hat, der will erst mal zeigen, was geht. Und weniger zeigen, wie viel Schwarzpulver man mit wie wenig Nitro ersetzen kann.

Dazu kamen Läufe, die mit starken Fertigungsschwankungen klar kamen und auch noch das letzte bisschen Leistung aus ihren Patronen rausholten. Und eventuell auch aus der nächst-größeren Patrone rausgeholt hätten, hätte man den Ingenieuren ihren Willen gelassen. Naja, eventuell waren sie auch noch etwas von der Schwarzpulver-Zeit beeinflusst, für Schwarzpulver braucht man eben längere Läufe und es ist eine gute Praxis, übermäßig stabile Läufe zu bauen, wenn man über schlecht dosierte Ladungen nachdenkt – die fertig konfektionierte metallische Patrone war ja auch noch recht neu und Laden mit Papierpatrone sorgt schon häufig dafür, dass man mal ein paar Krümel Pulver verliert. . Zudem sind die ersten Nitropulver weit weniger rasant gewesen als heute – was wir immer noch in den Lauflängen- und Ladeempfehlungen für Patronen mit 50 Jahren Dienstzeit sehen wie die .308 Win.

Das war schon schlecht: Praktisch sind das alles Patronen für etwa 800m, wenn wir über Direktschüsse sprechen. Denn das ist der Bereich, wo die vergleichbare, aber weit modernere 7.62×51 nicht mehr überschallschnell ist und wo Zeit-typische Spitzgeschosse2 anfangen zu taumeln und damit grandios unpräzise werden. Die Läufe dieser Zeit haben allerdings Längen von 28″-30″, die man heute noch bei Longrange-Schützen sieht, dann sind die allerdings massiver, denn lange dünne Läufe schwingen nicht unbedingt präzisionsverbessernd3. Nicht umsonst enden die meisten Jagdgewehre bei 24″ und wer modern ist, nimmt eher 20″ und das bei einem dickeren Durchmesser.

Das passt also schon nicht. Und dann kommt da die Visierung zu. Ist Euch schon mal aufgefallen, dass PPSh (Maschinenpistole), Kalaschnikow (Sturmgewehr) und Mosin Nagant fast die gleiche Visierung haben? Nur mit unterschiedlichen Graduierungen? Und war jemand schon mal so ehrlich zu sich und hat sich eingestanden, dass die Youtube-Wunder eventuell extrem weite Schüsse damit abgeben, aber man selbst es nicht schafft? Ich hatte in der Schweiz den einzig nicht ideologisch verbrämten Kaschi-Kurs meiner Karriere. Und was hab‘ ich gelernt? 200m ist das praktische Maximum für diese Visierung bei dem üblichen Training für Rekruten. Die Visierung auf dem Gewehr 98 ist nicht viel besser und sieht der auf der C96 sehr ähnlich (und da hätte sie verdammt noch mal auch bleiben sollen!).

Tja und da haben wir es: 1500m-Lauf, 800m Patrone, 200m Visierung  (okay, mein Bauchgefühl hat zu Beginn des Artikels 100m gesagt). Das ergibt nicht etwa ein Mittel von 833m, hier zählt das Minimum: Das ist ein 200m-Gewehr. Allerdings mit dem Rückstoß, Gewicht und der Unhandlichkeit eines viel größeren Gewehrs.

Natürlich muss man fair sein und festhalten: Eventuell wollte man gar nicht präzise schießen. Sondern nur Blei in der Heide verteilen. Die Briten haben  Volley Fire sogar als Ausbildungspunkt gehabt. Die Deutschen waren Meister der kombinierten Gewehr-und-MG-Taktik, die das Gewehr stark von der Pflicht entbunden hat, selbst Schaden verursachen zu müssen. Die Russen… da hab ich keine Ahnung, ich sag mal: Die Russen hatten genügend Personal.

Bleibt die Frage: Wie schlimm ist das? Das hängt natürlich von der Doktrin und dem Vermögen der Gegner ab. Im ersten Weltkrieg war letzteres kein Problem – alle hatten ähnliche Gurken. Und witzigerweise hatten alle eine gurkige Doktrin, die sich aber von 1914 bis 1944 stark verändert hat: Das Sturmgewehr war wenig innovativ in seinen Einzelteilen. Nicht umsonst weist jeder russische Fan darauf hin, dass Federov schon 1915 sowas ähnliches gebaut hat. Aber die Kombination von einer gut-genug-für-300m-Patrone in einem gut-genug-für-300m-Lauf mit einer gut-genug-für-300m-Visierung war innovativ. Und das brachte eine Doktrin mit, die die Mutter aller heutigen Small-Unit-Tactics ist.

Und das ist das, was mir als Aussage wichtig: Nicht das beste Teil zählt, sondern die beste Zusammenstellung für den gewählten Zweck. Früher war die Visierung das limitierende Element. Heute haben wir viel Auswahl von guten Eisenvisierungen wie beim M16 über Rotpunkte und 1x-? Zielfernrohre bis zu richtig großen ZFs, die die Maximalreichweite der Patrone zur praktischen Einsatzreichweite der Waffe machen können. Niemand hier wird ein 3x-12×56 auf ein 10.3″ AR setzen. Aber dicke 1x-8x Swaros und ACOGs habe ich schon gesehen, wo ich mich frage, ob das kluges ausnutzen der maximalen Fähigkeiten der Waffe ist oder einfach ein Fall von „viel hilft viel“. Und bei ARs sollten wir sowieso noch mal in einem anderen Artikel über Bullbarrels, Kompensatoren, Offset-Sights, Dustcover und Hülsenabweiser, beidseitige Sicherungen und einseitige Verschlussfänge und dergleichen sprechen.

Abschließend muss ich zwei Gewehre aus der von mir hier so kritisierten Zeit vom ersten bis zum zweiten Weltkrieg lobpreisen:

Das Enfield M1917. Vermutlich das Weltkrieg-1-Gewehr mit der besten Visierung. Und wie wir gesehen haben, ist die Visierung das limitierende Kriterium, wenn man den Repetierer als Einzel- und Direktfeuer-Waffe sieht. Klar, der kam ein Vierteljahrhundert nach dem Mosin Nagant und 20 Jahre nach dem Gewehr 98. Und vor Weltkrieg 2 kam das Garand daher und machte ihn überflüssig. Aber ganz kurz war es eine tolle Waffe.

Das Lee-Enfield SMLE Model 5 Mark 2, auch bekannt als „Jungle Carbine“. Gegen Ende des zweiten Weltkriegs hat endlich mal jemand 25cm vom Lauf abgesägt und damit die maximale Reichweite zwar stark beschnitten, die praktische Einsatzreichweite aber kein bisschen. Dazu kommt die beste Magazinkapazität in den Weltkriegen. Das war zwar nie eine wirklich tolle Waffe, aber eine viel nützlichere.